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Schluss mit dem ewigen Aufschieben
Gute Gefühle helfen, Motivation zu entwickeln

6.10.2016

Was ist das denn? Diese Frage erhielten die Mitarbeitenden des Synodalen Ausschusses für Seelsorge und Beratung des Evangelischen Kirchenkreises Siegen in den vergangenen Wochen öfters. Hatten sie doch am vergangenen Mittwoch (28.9.2016) zu einem Studientag „Prokrastination … wenn nur noch Aufschieben hilft“ in die CVJM-Jugendbildungsstätte in Wilgersdorf eingeladen. Dietrich Hoof-Greve, Ausschussmitglied und Pfarrer der Evangelischen Studierendengemeinde Siegen, kennt das Problem zur Genüge. Es belastet Studierende und schafft nicht selten Leidensdruck. Dinge werden auf den letzten Drücker erledigt. Man nimmt sich etwas vor, hält sich aber nicht daran. Man hat einfach zu viel um die Ohren. Man kann nicht abschalten, weil man immer an die unerledigten Dinge denken muss. Wenn es schlimm kommt, erleiden Menschen wegen ihres Aufschiebens private oder berufliche Nachteile. Aber nicht nur Studierende sind davon betroffen.

Grund genug für den kreiskirchlichen Ausschuss unter der Leitung von Pfr. Rolf Christian Wangemann, der auch den Studientag moderierte, einen Experten zum Thema einzuladen. Diplom-Psychologe, Psychoanalytiker und Buchautor Hans-Werner Rückert, Leiter der Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung der Freien Universität Berlin, hat sich intensiv mit dem Problem der Prokrastination befasst und Gegenstrategien entwickelt. Rückert kennt die Problematik ebenfalls von Studierenden. Aufgaben, als wichtig, vorrangig oder termingebunden eingestuft, werden unnötigerweise über Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre aufgeschoben. Die angefangene Dissertation liegt immer noch in der Schublade. Man fasst Vorsätze, unternimmt Anläufe, aber das Vorgenommene wird nicht umgesetzt. Vielleicht, weil es mit negativen Gefühlen behaftet ist, wie beispielsweise die Steuererklärung. Es kann aber auch ein Symptom sein für tiefer liegende Konflikte oder aber zum Schutz der eigenen Selbstachtung, wenn man sich zu viel zugemutet hat und zugeben muss, es nicht zu schaffen.

Rückert beschreibt eine Situation: Ich habe eine Aufgabe, die ich innerlich bejahe, ich will es tun, es ist wichtig. Ich sitze um 15 Uhr am Schreibtisch. Ich öffne den Text und entdeckt in mir ein Gefühl, das ich als Hunger empfinde. Ich stehe auf, esse, lese anschließend Zeitung, erinnere mich, was ich eigentlich tun wollte, sehe aber den Abwasch, den ich angehe. Danach habe ich das Gefühl, etwas getan zu haben. Abends sitze ich mit schlechtem Gewissen im Kino. Rückert: „Es ist gar nicht so schwer diesen Mechanismus außer Kraft zu setzen“. Der Psychologe hat das BAR-Programm entwickelt, mit dessen Hilfe sich der Motor des Aufschiebens abstellen lässt. Es besteht aus Bewusstheit, Aktionen, Rechenschaft.

Bewusstheit bedeutet, ein Wissen zu erlangen über die wichtigsten Konflikte hinter dem Aufschieben, über Einstellungen, die es begünstigen und solchen, die ihm entgegenwirken. Das können überhöhte Ansprüche an sich selbst sein, aber auch Ängste. Rückert: „Statt sich für das Aufschieben zu schämen und sich abzuwerten oder es vor sich selbst zu beschönigen, ist Selbstakzeptanz gefragt.“

Nun gilt es, überprüfbare Ziele zu setzen, vernünftige Schritte zu planen und durchzuführen. Dabei helfen ein angemessenes Zeitmanagement, sich bei negativen Gefühlen zu beruhigen und sich für positive Schritte zu belohnen. Über den Fortschritt der erreichten Veränderungen gibt ein Veränderungslogbuch Rechenschaft.

Als Grundsatz nennt Rückert: „Wir machen dann etwas relativ mühelos, wenn es zu mindestens 70% mit guten Gefühlen verbunden ist.“ Es gelte daher zu überlegen, wie man Tätigkeiten mit guten Gefühlen in Verbindung bringen könne. Die Motivation aus der Sache, die jeden Tag Spaß mache, wirke stärker als funktionale Zusammenhänge.

Rückert empfiehlt, eine Liste mit all dem anzufertigen, was zu erledigen sei. Dabei dürften Vergnügungen und Freizeit nicht vergessen werden. Von dieser Liste sei zu streichen, was man eh nie ernsthaft habe machen wollen. Nun könnten realistische Ziele in kleinen Etappen, Werte und Prioritäten festgelegt und aufgeschrieben werden. Rückert: „Legen Sie Belohnungen für Erfolge fest und belohnen Sie sich für jeden Schritt.“ Soziale Kontakte hält der Psychologe für die stärksten Belohnungen.

Für Grund legend ist es nach Ansicht des Psychologen aber auch, Aufgaben aufzugeben, die nicht mit dem eigenen Selbst kompatibel seien. Gegebenenfalls müsse die Lebensphilosophie geändert und neue Perspektiven entwickelt werden. Dabei könne womöglich professionelle Hilfe erforderlich sein.

Nach dem Mittagessen bot der Studientag für Fachleute aus Beratung, Therapie und Seelsorge sowie Unterrichtende, Interessierte und Betroffene Workshops zu unterschiedlichen Themen rund um das Gesamtthema Prokrastination an. Neben Hans-Werner Rückert wirkten mit Eva Frings, Lt. Psychologin des Kreisklinkums Siegen, die Studentin der Volkswirtschaft und Politikwissenschaft Rebecca Wangemann, Dipl. Theologe Bernd Wagener sowie Carola Jordan, Psychologin B.Sc. vom Arbeitsmedizinischen Zentrum Siegen.

kp

 

Text zum Bild oben: (Foto Karlfried Petri)

Hans-Werner Rückert, Diplom-Psychologe und Psychoanalytiker, hat sich intensiv mit dem Problem der Prokrastination befasst und Gegenstrategien entwickelt.

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