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Wer singt, hat noch Hoffnung
31.3.2017
Rund zwei Jahre Vorbereitung lagen hinter den Mitwirkenden, als sich jetzt im Apollotheater Siegen der Vorhang zur Kinderoper Brundibár hob. Gemeinsam brachten das Ev. Gymnasium und die Fritz-Busch-Musikschule das 1938 komponierte und mehrfach während des Holocaust im jüdischen Ghetto Theresienstadt aufgeführte Stück auf die Bühne.
Um die Bedeutung und Wucht der Kinderoper einzuordnen und begreifbar zu machen, wurde die Aufführung um eine Vorgeschichte erweitert. Sie zeigte Szenen aus dem Alltag im Ghetto: Eine Mutter, die ihrer Familie aus einer einzigen geklauten Kartoffel ein Festmahl zubereiten will. Ein zitternder alter Mann, der seine Frau vermisst. Eine Gruppe, die unter Läusen, Durchfall und Hunger leidet. Eine temperamentvolle Frau, die ihre Wut über die menschenunwürdigen Zustände kaum zurückzuhalten vermag. Bereichert werden die Szenen mit zeitgenössischer Musik und beeindruckenden Gesangssoli, u.a. von Sophia Achenbach und Katharina Langemeyer.
Nur die Schauspieler werden angestrahlt, der Rest der Bühne liegt im Dunkeln. Zwischen den Szenen immer wieder lange Momente völliger Dunkelheit und Stille. Die Regie lässt dem Zuschauer Zeit, das Gesehene nachwirken zu lassen.
Verlogener Anschein von normalem Leben
Eines Tages wird im Ghetto plötzlich renoviert, alles wird herausgeputzt, Kulturveranstaltungen angekündigt, die Kinder sollen eine Oper aufführen. Die Ghettobewohner sind verwirrt – warum das Ganze? Dann spricht sich herum: Eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes wird erwartet. Diese soll fröhliche Menschen sehen und nicht erfahren, wie es wirklich in Theresienstadt zugeht. Alles ist eine Farce.
Doch besonders die Kinder sind aufgeregt: Endlich passiert mal etwas Schönes! Schwer auszuhalten für die Zuschauer. Denn diese wissen im Gegensatz zu den ursprünglichen Darstellern, wohin für viele der Weg führen würde. Doch die Erwachsenen im Stück gönnen den Kindern diese Freude, dieses bisschen Normalität und Lebenslust.
Eine Mutmachgeschichte
Dann ist der große Tag gekommen: Die Kinderoper Brundibár wird aufgeführt. Es ist eine Mutmachgeschichte von den Geschwistern Pepícek (Dorothea Schlüter) und Aninka (Clara Löbbecke), die auf dem Marktplatz singen wollen, um Geld für Milch zu verdienen. Doch der herzlose Leierkastenmann Brundibár (Maximilian Ludwig) duldet keine Konkurrenz.
Mithilfe von jeweils drei freundlichen Spatzen, Katzen und Hunden mobilisieren Pepícek und Aninka die anderen Kinder der Stadt. Allen gemeinsam gelingt es, Brundibár endgültig zu vertreiben. „Ihr müsst auf Freundschaft bau’n und zueinander steh’n“, singen zum Schluss alle Darsteller zusammen. Nur so gelingt der Sieg über das Böse.
Ganz zum Schluss treten die Darsteller in den Hintergrund: Die letzten Akkorde gehören Kindern aus Theresienstadt, die auf einer Videoleinwand eingeblendet werden und das Stück zu Ende singen.
Kinder zeigten enorme Disziplin
Eine zutiefst beeindruckende Vorstellung, bei der selbst die Kleinsten aus dem Kinderchor mit großer Disziplin mitarbeiteten und der man deutlich anmerkte, wie viel Vorbereitung und Arbeit dahinterstanden. Nicht nur für die rund 220 Darsteller und das Orchester, sondern vor allem auch für die Lehrerinnen und Lehrer von Evau und Musikschule.
Rund zwei Jahre Vorbereitungszeit brauchte es, bis Brundibár in Siegen auf die Bühne kam. In dieser Zeit besuchten einige der Schüler auch das Ghetto Theresienstadt; probten sogar auf dem Dachboden, auf dem auch damals geprobt wurde; sprachen mit Zeitzeugen. Auf vielfältige Weise wurde das Projekt Teil des Geschichts- und Musikunterrichts und des schulischen Alltags.
Das schlimmste Verbrechen
Haben Menschen im Ghetto nicht Wichtigeres zu tun als Theater zu spielen und zu singen? Diese Frage geht am Wesentlichen vorbei. Zwar sind Nahrung und Kleidung unmittelbar lebensnotwendiger. Doch Kultur gibt Menschen das Gefühl, noch Menschen zu sein. Wer singt, hat noch Hoffnung. Vielleicht ist das schlimmste Verbrechen nicht Mord. Vielleicht ist das schlimmste Verbrechen, Kindern alle Hoffnung zu nehmen. Brundibár war ein Versuch, das nicht zuzulassen.
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Projektleitung: Jens Aspelmeier, Renate Brenner, Benjamin Eibach, Johannes Leismann, Linda Löbbecke, Cordula Reimers
Beteiligt waren:
- Kinderchor der Fritz-Busch-Musikschule (Leitung: Linda Löbbecke)
- Jugendchor der Fritz-Busch-Musikschule (Leitung: Linda Löbbecke)
- Schulchor des Evau (Leitung: Renate Brenner, Johannes Leismann)
- Gesangsklassen und Unterstufenchor des Evau (Leitung: Renate Brenner, Johannes Leismann)
- Orchester des Evau (Leitung: Benjamin Eibach, Cordula Reimers)
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Foto: „Nur vereint schaffen wir den Sieg gegen das Böse.“ Die Schlussaufstellung der Kinderoper Brundibár war ein beeindruckendes Bild – umso mehr, gedenkt man der ursprünglichen Darsteller.
Text und Foto: Stefanie Bald