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Anstand, Moral, Respekt
Runder Tisch der Religionen: Immer miteinander reden

21.11.2018

Zum ersten Mal überhaupt, so erinnerte sich Annegret Mayr, Pfarrerin der Nikolai-Kirchengemeinde in Siegen und Islambeauftragte des Kirchenkreises Siegen, sitzen in Siegen Vertreter des Judentums, des Islam und der beiden Kirchen auf einem Podium, um miteinander und mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen.

Dies geschah im Atriumsaal der Siegerlandhalle am vergangenen Freitag (16. November 2018) auf Einladung des Rundes Tisches der Religionen. Auf dem Podium saßen Superintendent Peter-Thomas Stuberg, Evangelischer Kirchenkreis Siegen, Dechant Karl-Hans Köhle, Katholisches Dekanat Siegen, Imam Ali Osman Korkmaz, DITIB-Selimiye-Moschee, der von Adnan Demir übersetzt wurde, und Allon Sander, jüdischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Siegerland. Die Moderation hatte Anne Willmes, WDR, übernommen.

Gesprächsthema war der Beitrag, den die Religionen zum Zusammenleben in unserer Gesellschaft leisten können. Im Zentrum des Gesprächs standen die Begriffe Anstand, Moral und Respekt, die zunächst einmal mit Inhalt gefüllt wurden. Zum Ausdruck kam, dass Respektlosigkeit und Egoismus in der Gesellschaft zugenommen haben. Die Gesprächsteilnehmer nannten Erlebnisse, in denen ihnen Respektlosigkeit im Alltag begegnet. Anonyme Veröffentlichungen im Internet seien zunehmend von Respektlosigkeit gekennzeichnet mit einer Qualität von gefährlich bis bedrohlich.

Für die Juden, so Sander, sei Anstand ein Zentralbegriff. Rechtsradikalität, Schimpfwörter und Bedrohung seien nicht anständig. Kein Mensch solle sich so verhalten. Im Judentum gebe die Religion den Rahmen, Anstand, Moral und Respekt persönlich zu entwickeln. Es gelte die Rabbiner-Regel „Tue was du nicht liebst deinem Nächsten nicht an. Gehe raus und lerne es.“

Die im Islam bestehenden Gebote und Verbote gehörten zum Anstand, so Korkmaz. Es sei Aufgabe der Eltern dies vorzuleben. Dazu gehöre Mitgefühl und Mitleid. Heute würden die Kinder auch von sozialen Medien, Computerspielen und der Schule erzogen. Dies könne sich unterscheiden von dem, was in den Familien gelernt werde. Was das Interesse betreffe, trete die Moschee bei Jugendlichen in den Hintergrund und der Einfluss sei begrenzt. Hinterhofprediger, auch im Internet, erreichten Jugendliche und gäben Antworten. Korkmaz: „Wenn wir Moscheen, Kirchen und Synagogen füllen könnten, wäre es einfacher.“

 

Für Köhle gehören Tugenden dazu wie Freundlichkeit, Höflichkeit und aufeinander zugehen. Er nannte die Kardinaltugenden Glaube, Hoffnung, Liebe. Um dies neu zu lernen, seien die Familien gefordert. Wenn dies gelinge, wirke sich das auf die Persönlichkeit eines Menschen positiv aus.

 

Superintendent Stuberg bezog sich auf die Haltung eines Menschen, für den der andere eine ebenso wertvolle Persönlichkeit sei wie man selbst. Eine solche Haltung könne eingeübt werden. Er zitierte Albert Schweitzer, der als Grundbegriff für Verhalten formuliert habe „Ich bin Leben, das leben will, inmitten voll Leben, das leben will“. Im Kirchenkreis Siegen werde Respekt und das Einhalten von Grenzen in etwa 50 evangelischen Kindertageseinrichtungen aus biblischen Geschichten gelernt und eingeübt.

Auch das Verstehen und Interpretieren der Quellentexte kam zur Sprache. Sowohl im Koran als auch im Alten Testament gibt es Stellen, die Gewalt gegen Andersgläubige zum Ausdruck bringen.

Wenn man den Koran im historischen Kontext lese und verstehe, so Imam Korkmaz,  werde sehr schnell deutlich, dass Aussagen wie „tötet die Ungläubigen“ auf eine Kriegssituation vor 1400 Jahren zu beziehen sei, aber doch nicht auf den heutigen Alltag.

Superintendent Stuberg macht deutlich, dass die Bibel nicht wie die Straßenverkehrsordnung gelesen werden solle. Es gelte den Geist zu verstehen, der hinter dem Wort stehe. Der Buchstabenglaube führe in die Irre. Auch im Judentum gibt es diese Problematik. Nach Auffassung von Sander sei es eine zuvor vorhandene Einstellung, die nachträglich durch die Religion begründet werde. Dabei gehe es um Machtverhältnisse.

Aus dem Publikum wurde von einer jungen Muslima die Kopftuchfrage ins Gespräch eingebracht. Hier gingen die Meinungen auf dem Podium und im Publikum, das sich nun stärker einbrachte, auseinander: Kopftuch als Ausdruck des Glaubens. Glauben im Herzen ohne Kopftuch. Kopftuch als politisches Symbol. Kopftuch nur im privaten Bereich. Kopftuch als Teil der persönlichen Identität. Freie Entscheidung mit oder ohne Kopftuch.

Allon Sander, er saß mit Kippa, der jüdischen Kopfbedeckung, auf dem Podest, ist in feministischen Kreisen  aufgewachsen in denen das Kopftuch ein No-Go gewesen sei. Er habe bis heute Probleme damit und sei dagegen. Er fände es allerdings schrecklich, wenn er nicht mit Kippa, die er im Alltag nicht trage, beispielsweise im Krankenhaus nicht arbeiten dürfe. Daher würde er auch für das Kopftuch kämpfen.

Es wurden Beispiele geschildert, wo Frauen mit Kopftuch im Alltag beschimpft wurden und wie in solchen Situationen Passanten mit Zivilcourage dagegen angingen.

Deutlich wurde auch das Dilemma zwischen dem Anspruch an das Miteinander und der Realität. Was kann man also tun?

Als gute Konsens-Grundlage des Miteinanders in Deutschland wurde von Stuberg das Grundgesetz genannt. Das Miteinander könne in Gesprächen erlernt werden. Dabei habe zu gelten: Null Toleranz für Intoleranz. Das bestärkte auch Allon Sander. Immer wieder müsse man mit Menschen ins Gespräch kommen. Fehlverhalten dürfe nicht unkommentiert bleiben, sonst werde es womöglich sanktioniert. Aber jeder müsse auch an sich selbst arbeiten. Es kam der Vorschlag aus dem Publikum, die garantierte Meinungsfreiheit im Grundgesetz um einen respektvollen Umgang miteinander zu ergänzen.

Ali Osman Korkmaz sah die Aufgabe, die Gebote und Verbote Gottes in den Religionen zu achten und dies  den Kindern beizubringen sowie vorzuleben. Auch er spricht sich dafür aus, miteinander zu reden. Diskussionen seien zu ertragen, um den anderen zu verstehen. Korkmaz: „Im Glauben gibt es keinen Zwang.“

Es müsse die Andersartigkeit als Spannung ausgehalten werden, betont Peter-Thomas Stuberg. Man müsse zuhören und erklären, wer man selbst sei. Das Grundgesetz sei in einem offenen Prozess neu durchzubuchstabieren. Dazu verhülfen Veranstaltungen wie diese.

Karl-Hans Köhle zitiert Peter Scholl-Latour: „Ich fürchte nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Abendlandes. Das Christentum hat teilweise schon abgedankt. Es hat keine verpflichtende Sittenlehre, keine Dogmen mehr.“ Den Grund des Umgang-Problems sieht er darin, dass die Menschen Gott vergessen haben. Es helfe, den Glauben neu zu entdecken und zu leben.

Zum Schluss empfahl Anne Willmes einen Rat, den sie ihren Kindern gebe. Weniger Angst vor Fremdem zu haben, sondern Neugierde auf andere Kulturen zu entwickeln. Raus gehen, reden, Zivilcourage zeigen und Meinungen äußern.

Musikalisch unterstützt wurde die Podiumsdiskussion durch das Hartmut Sperl-Trio. Mit Stefan Schwarzinger, Kontrabass, Florian Schnurr, Drums und Hartmut Sperl, Piano.

kp

Foto oben:

Große Einigkeit herrschte auf dem Podium im Atriumsaal der Siegerlandhalle. Der Beitrag der Religionen zum Zusammenleben in unserer Region war das Thema der ersten Veranstaltung dieser Art in Siegen.

Im Bild v. li.: Allon Sander, Adnan Demir, Ali Osman Korkmaz, Anne Willmes, Peter-Thomas Stuberg und Karl-Hans Köhle. Foto Karlfried Petri

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