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Beratungsarbeit am Rande der Gesellschaft
Finanzierung von TAMAR längerfristig ungewiss
18.2.2019
Sie beraten seit über vier Jahren in Südwestfalen Frauen, die am Rande der Gesellschaft ihre Existenz und nicht selten die ihrer Familien im Ausland finanzieren. Die Prostituierten- und Ausstiegsberatungsstelle TAMAR setzt mit einem niederschwelligen Beratungsansatz an und sucht die in der Prostitution tätigen Menschen direkt vor Ort in den Prostitutionsbetrieben auf. Getragen wird diese besondere Sozialarbeit von der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen, unterstützt vom Bezirksverband der Siegerländer Frauenhilfen.
Die Zahlen sprechen für sich. In 2018 fanden 481 Erstkontakte zu Frauen an insgesamt 58 Prostitutionsorten statt. Davon waren 65 Erstkontakte zu Frauen an insgesamt 14 Prostitutionsorten im Kreis Siegen-Wittgenstein. 86 Klientinnen wurden intensiv begleitet, 12 davon befinden sich im Ausstiegsprozess.
Tanja Mesic und Sabine Reeh schildern ihren Arbeitsalltag in der Beratungsarbeit. Sie gehen in die Clubs, Bars, Appartements, Wohnungen, Wohnwagen und Kneipen. In einem unauffälligen Bus sind die Beraterinnen immer zu zweit unterwegs, aus Sicherheitsgründen. In dem Bus können Beratungsgespräche in einer vertraulichen Atmosphäre in abgelegenen Ortschaften durchgeführt werden. Darüber hinaus gibt es ein Büro in Soest. Sie kommen unangemeldet. Bei größeren Betrieben rufen sie vorher an. Mittlerweile sind sie bekannt. Sie haben Informationen in 12 Sprachen dabei, als Flyer in Form einer Visitenkarte gefaltet und Feuerzeuge mit ihrer Telefonnummer. Die Sprachverständigung ist nicht immer einfach. Aber sie finden Kontakte und Zugänge. Sie sind als Nichtregierungsorganisation für die Frauen parteilich und anonym.
92% der Frauen, die im Rahmen der aufsuchenden Arbeit sowie der individuellen Betreuung 2018 angetroffen wurden, sind Migrantinnen. Es sind zumeist junge Frauen aus Bulgarien, Ungarn oder Rumänien. Sie leben in ihren Heimatländern in ärmeren Verhältnissen als hier, haben nicht selten Kinder, die bei den Großeltern leben, die sie finanziell unterstützen und die nicht wissen sollen, wie sie ihr Geld verdienen. Sie nehmen das Leben in der Prostitution in Kauf, um ihren Kindern bessere Bildungsmöglichkeiten anbieten zu können. Sie wünschen sich ein besseres Leben für ihre Kinder. Tanja Mesic: „Es ist vielfach Armutsprostitution.“ Die Frauen kennen das hiesige soziale Hilfesystem nicht, haben keine Krankenversicherung, sind nicht registriert und nicht informiert. Viele sind Analphabeten, haben Berührungsängste gegenüber Ämter und Behörden, wissen Mesic und Reeh. Aufgrund der Komplexität der individuellen Lebensbedingungen der Frauen läuft die intensive sozialarbeiterische Begleitung über Wochen, Monate und Jahre. Gesundheitliche Versorgung, Krankenversicherung, Wohnungslosigkeit, Verschuldung, Steuerfragen, Behördengänge, Kinderversorgung und -betreuung, Sicherung des Lebensunterhalts, Gewalt und Krisenintervention gehören zur individuellen psychosozialen Betreuung der Frauen. Die Beraterinnen informieren über die rechtliche Regelung der Prostitution in Deutschland. Sie begleiten aber auch zum Gesundheitsamt oder zum Ordnungsamt. Alles andere entscheiden die Frauen.
Das Prostituiertenschutzgesetz soll die Rechtssicherheit für die legale Ausübung der Prostitution verbessern und Kriminalität in der Prostitution wie Menschenhandel, Gewalt und Ausbeutung bekämpfen. Pfarrerin Reiche kennt die rechtliche Situation und die Zahlen: „Die Zahl der Frauen und Betriebe geht zurück. Das bedeutet, die Frauen arbeiten anonym und illegal. Es entsteht ein Schwarzmarkt.“ Viele Frauen werben über das Internet. Dadurch sind sie für die Behörden aber auch für die Beratungsarbeit unerreichbar. Trotz Meldepflicht haben die in der Prostitution tätigen Migrantinnen oft keine Meldeadresse.
Erika Denker, Vorsitzende des Bezirksverbandes der Siegerländer Frauenhilfen: „Die Siegerländer Frauenhilfe unterstützt diese Arbeit. Uns ist es ein Anliegen, Frauen beim Ausstieg zu helfen.“ Ausstiegserfolge sind da. Viele wollen gerne aussteigen, aber was dann? Die Fragestellungen in dem Zusammenhang sind komplex. Die Frauen können nicht lesen und schreiben, haben Kinder und finanziellen Druck. Was können sie machen? Sie sind eine schwer zu vermittelnde Zielgruppe. Es gibt Frauen, so Reiche, die konnten nach ihrem Ausstieg als Altenpflegehelferin arbeiten.
Die Finanzierung dieser Beratungsarbeit ist ein harter Kampf so Pfarrerin Reiche. Sie kann nicht ohne öffentliche Förderung fortgeführt werden. Zum Jahresbeginn 2018, so die Frauenhilfe, stand noch nicht fest, wie sich eine weitere Förderung der Beratungsstelle gestalten würde. Die Evangelische Frauenhilfe in Westfalen (EFhiW) und der Bezirksverband der Siegerländer Frauenhilfen sind damals für die Fortsetzung der Arbeit bis einschließlich März 2018 eingesprungen. Eine zweijährige Projektförderung aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds und des Landes NRW wurde erst am 15. April 2018 bewilligt. Durch die Förderung Projekt ProBOA „Prostitution: Beratung, Orientierung, Ausstieg“ ist die Finanzierung von zwei Personalstellen und Sachkosten bis April 2020 gesichert. Danach, so Pfarrerin Reiche, müssen erneut Anträge gestellt werden. Sie hofft sehr, dass die Kreise und die Stadt Hamm die Förderung übernehmen.
kp
Sie beraten Frauen am Rande der Gesellschaft, die Prostituierten- und Ausstiegsberatungsstelle TAMAR. Getragen von der Evangelischen Frauenhilfe in Westfalen und unterstützt vom Bezirksverband der Siegerländer Frauenhilfen.
Im Bild (v.li.): Tanja Mesic, Sabine Reeh (beides Beraterinnen), Erika Denker (Vorsitzende des Bezirksverbandes der Siegerländer Frauenhilfen) und Pfarrerin Birgit Reiche (Leiterin von TAMAR).