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Notfallseelsorge in Extremsituationen
24.9.2014
Das 7-jährige Mädchen kommt nach Hause und öffnet die Wohnungstür. Sie findet ihre 14-jährige Schwester erhängt im Hausflur. Ein Polizeibeamter erschießt sich in der Waffenkammer. Er wird von Kollegen gefunden. Extremsituationen für Betroffene und Notfallseelsorger gleichermaßen. Wie verhält man sich in solchen Situationen angemessen? Wie kann man helfen und wo sind Grenzen gesetzt? Wie können sich die Helfer schützen, um solche schrecklichen Situationen zu verkraften? Fragen, die auf dem vergangenen 11. Tag der Notfallseelsorge Siegerland aufgegriffen und beantwortet wurden. Die Fachtagung mit dem Thema „Wenn das Leben zu schwer wird – Selbsttötung als Einsatzindikation“ fand am vergangenen Freitag (19. September 2014) im Ev. Gemeindezentrum Kredenbach statt. Peter Dietermann, Koordinator der Notfallseelsorge, freute sich, die annährend 70 Teilnehmenden aus unterschiedlichen Rettungsdiensten und anderen Hilfeeinrichtungen begrüßen zu können.
9.890 Menschen haben sich in 2012 in Deutschland selbst das Leben genommen. Diese Zahl des Statistischen Bundesamtes nannte Pfarrer Ralf Radix, Beauftragter für Notfallseelsorger der Evangelischen Kirche von Westfalen. Die gleiche Anzahl werde als Dunkelziffer vermutet, da manche Todesursache, beispielsweise ein Verkehrsunfall oder Medikamentenmissbrauch, nicht immer als Suizid erkennbar sei. Radix: „Alle 53 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben.“ Die Zahl ist seit 2008 wieder steigend. Infolge gibt es viele Menschen, die einen Suizid miterleben oder einen Suizid-Toten finden. Diese Menschen sollen von der Notfallseelsorge betreut werden. Angehörige stellten oft die Frage, ob sie die Suizidabsicht hätten bemerken müssen und ob sie schuld seien. Werde diese Frage nicht aufgelöst, bleibe eine Belastung, so der Seelsorgeexperte.
Der ständige Diakon und Polizeiseelsorger im Märkischen Kreis Hans Bexkens schilderte einige Suizid-Einsätze, die er begleitet hat. Es kann lange dauern, so Bexkens, bis Angehörige oder Kollegen ein solches Erlebnis verarbeitet haben. Seine Erfahrungen: Reden hilft. Und, mit Gott reden hilft.
Bernd Wagener, stellv. Leiter der Telefonseelsorge Siegen, stellte die Arbeit der ökumenischen Einrichtung vor. 24 Stunden am Tag ist die Telefonseelsorge zu erreichen. Rund 22.000 Anrufe werden im Laufe eines Jahres in Siegen entgegengenommen. Wagener: „Es sind unglaublich schwere Gespräche, die die gut ausgebildeten Ehrenamtlichen mitunter zu führen haben. Ihnen stehen nur das Telefon und das Ohr zur Verfügung. Meine Erfahrung: Aus Worten können Wege werden.“ Er schildert aber auch Gespräche, die mit dem Verstummen am anderen Ende enden. Von Anfang des Jahres bis zum 20. August (Tag der Zwischenbilanz) sind in der Siegener Einrichtung 136 Suizidanrufe eingegangen. Hinzu kommen 344 Anrufe in akuten Krisen. Damit die Mitarbeitenden diesen Dienst unbeschadet überstehen, werden regelmäßig Supervisionen und Fortbildungen durchgeführt.
Beeindruckend war das Referat einer Frau, die vor vielen Jahren ihren Ehemann durch Suizid verloren hat. „Ab diesem Moment stimmte das Leben nicht mehr. Bei Suizid stimmt auch die Vergangenheit nicht mehr. Massive Schuldgefühle kommen auf. Freunde, Nachbarn und Verwandte ziehen sich zurück, weil sie nicht wissen wie und was sie reden sollen.“ Sie hat sich einer Selbsthilfegruppe angeschlossen und zudem professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Auch ihre Erfahrung ist, dass reden können, befreiend wirkt.
In Gruppengesprächen wurde die Thematik weiter aufgearbeitet. Den Einsatzkräften wurde aufgezeigt, wie wichtig es ist, sich selbst vor eigenem seelischen Schaden zu schützen. Auch manch praktischer Tipp wurde weitergegeben, der künftig helfen kann, mit Angehörigen in einer solchen Ausnahmesituation sensibel umzugehen.
Mit einer ökumenischen Andacht endete der 11. Tag der Notfallseelsorge Siegerland, der ausgerichtet wurde vom ökumenischen Kreis der Notfallseelsorge in der Trägerschaft des Ev. Kirchenkreises Siegen.
kp
Text zum Bild: (Foto: Karlfried Petri)
Bild oben:
Die Notfallseelsorge Siegerland ist fester Bestandteil des Rettungssystems. Die Fachkräfte leisten ehrenamtlich Erste Hilfe für die Seele.
Pfarrer Ralf Radix, Beauftragter für Notfallseelsorger der Evangelischen Kirche von Westfalen: "Alle 53 Minuten nimmt sich in Deutschland ein Mensch das Leben."
Bernd Wagener, stellv. Leiter der Telefonseelsorge Siegen, berichtete von Suizidankündigungen in der Telefonseelsorge.