LKR Döhling über Grenzverschiebungen
Gottesdienst zur Vereinigung des Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein am 5. Februar 2023 in der evangelischen Kirche Hilchenbach mit Landeskirchenrat Jan-Dirk Döhling
I.
Gnade sei mit Euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt!
„Nein, zu verzollen hat er nix“, sagt der Kutscher mit dem riesigen Pferdewagen zwischen den zwei Schlagbäumen. Und die Soldaten stehen stramm, und der Offizier drückt den Rücken durch und guckt in die Papiere und auf die Plane. Die hängt in der Mitte ziemlich durch, sieht aber vorn und hinten reichlich gefüllt aus. Und der Offizier runzelt die Stirn und der Kutscher meint unschuldig: „Sehen Sie, Herr Grenzwächter, in der Mitte ist nix, was hinten drauf ist, hat die Grenze noch nicht überschritten, und was vorne ist, ist über die Grenze schon wieder drüber. Also, wie gesagt, nix zu verzollen.“
Was ich Ihnen hier, liebe Gemeinde, beim Gottesdienst zur Vereinigung der Kirchenkreise Wittgenstein und Siegen, nacherzählt habe, ist eigentlich eine Karikatur. Sie stammt aus den Fliegenden Blättern des Jahres 1848, einer damals gern gelesenen satirischen Wochenzeitschrift. Die Karikatur mit der Kutsche, die vorn und hinten über die Schlagbäume herausragt, macht sich lustig über den buchstäblich kleinen Grenzverkehr in und um Schaumburg-Lippe. Das ist eine stolze Adelsherrschaft zwischen Minden und Hannover, genauer zwischen Bückeburg und Stadthagen, Porta Westfalica und Bad Nenndorf. Mit 340 km2 Größe ist sie ungefähr so groß wie Berleburg und Burbach zusammengenommen und – da sei der Wahrheit die Ehre gegeben – also deutlich länger als ein Pferdefuhrwerk. Wie auch immer – jedenfalls war Schaumburg-Lippe noch bis 1946 – da gehörten Wittgenstein und das Siegerland schon mehr als 100 Jahre zu Preußen – ein selbständiges deutsches Bundesland wie Baden und Bayern und Sachsen und Württemberg. Guck an!
II.
Im heutigen Predigttext geht es nicht um das Ende von Selbständigkeiten, auch nicht um deren Erhalt. Aber es geht um Grenzen und Grenzübertritte, und um die Verschiebung von Grenzen geht es auch: Ich lese aus dem Matthäusevangelium im 9. Kapitel:
9 Und als Jesus von dort wegging, sah er einen Menschen am Zoll sitzen, der hieß Matthäus; und er sprach zu ihm: Folge mir! Und er stand auf und folgte ihm. 10 Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. 11 Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? 12 Als das Jesus hörte, sprach er: Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. 13 Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): »Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.« Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten.
III.
Jesus hat nichts zu verzollen. Haben Sie’s gemerkt, liebe Vereinigungsgemeinde? Jesus hat nichts zu verzollen. Das ist das Erste, was wir an dieser kurzen Szene wahrnehmen könnten. Und es ist eine buchstäblich gute Nachricht. Jesus hat nichts zu verzollen.
Er geht weg von Kapernaum, „seiner Stadt“, wie es in der Erzählung zuvor hieß, kommt am Zoll vorbei, macht nicht Halt und wird nicht angehalten. Er hat eben nichts zu verzollen. Rund um den nicht gerade großen See Genezareth verliefen zur Zeit Jesu die Grenzen von drei verschiedenen römischen Herrschaftsgebieten. Und zu den Gebietsgrenzen kamen die Kultur- und Religionsgrenzen, die griechisch geprägten Städte im Osten, die Phönizier im Norden, die Samaritaner im Süden. Ganz zu schweigen von einzelnen Stadtgrenzen und den Mauthäuschen auf dem Weg. Natürlich gab es da überall ein Hinüber und ein Herüber, gab es Handel und Wandel, gab es Grenz-, Personen- und Warenverkehr. Und genau darum gab es überall auch Grenz-, Personen- und Warenkontrollen. Zöllner, die wir seit Kindergottesdienstagen als Erzschurken und Beutelabschneider kennen – Zöllner sind Grenzwächter. Sie bewachen und bewirtschaften Grenzen. So sorgen sie dafür, dass Preise und Märkte und Währungen stabil bleiben. Geben acht, dass fremder Ramsch nicht heimische Handwerker in den Ruin treibt und dass Werte und Wohlstand, die hier gemacht wurden, auch hier zum Gemeinwohl beitragen. Zöllner rechnen nach und sie rechnen um. Sie vergleichen, was das eine – das von dort kommt – denn hier drüben wert ist. Und sie bestimmen, was die eine, die von da kommt, denn tun und lassen und bezahlen muss, wenn sie nach hier will. Na klar, sie leben auch davon, und mag sein, sie leben nicht schlecht. Aber sei’s drum, Zöllner organisieren das Hinüber und Herüber; sie schützen das Innen, kontrollieren das Außen. Und so sorgen sie dafür, dass – Austausch hin oder her – wir wir und die die bleiben.
Ohne Grenze nämlich – egal, wo die verläuft, verlief oder künftig verlaufen wird – ohne Grenze kommt keine Gruppe zustande. Ohne Außen gäb's kein Innen. Ohne Ferne keine Nähe. Ohne Fremdheit keine Heimat. Ohne Abgrenzung keine Identität. So ist das unter Menschen, dagegen ist nichts zu wollen und auch nichts zu haben. Deshalb haben Grenzwächter nicht sofort Kritik und Verachtung verdient.
Allerdings: Jesus hat nichts zu verzollen. Was Jesus hat, ist und bringt, fügt und beugt sich nicht der Logik der Grenze. Es lässt sich nicht umrechnen, wirft keinen Gewinn ab und macht keine Verluste, die man säuberlich in Hüben und Drüben aufteilen könnte. Es lässt sich nicht einkellern und dingfest machen in Gruppenwährungen und Landeslogiken. Was Jesus ist, bringt und schafft, steht quer zur Logik der Grenze.
Wäre es anders, die Grenzwächter kämen aus dem Stirnrunzeln gar nicht heraus: „Bitte was haben Sie zu verzollen? Liebe und Gerechtigkeit? Evangelium und Gesetz? ‚Wahrer Mensch und wahrer Gott‘? ‚Allmacht und Ohnmacht‘? ‚Rechtfertigung und Heiligung?‘ Wie jetzt?
‚Schon und noch nicht? Gerecht und Sünder zugleich? Ja, was denn nun, guter Mann?! Da müssen Sie sich schon entscheiden. So kann ich nicht arbeiten!“– „Nein, kannst du wirklich nicht. Aber du kannst aufstehen und mir nachfolgen…“
Und Matthäus stand auf und folgte ihm.
IV.
Matthäus, der warm sitzt und trocken in seinem Zollhäuschen, Matthäus, der immer genau weiß, was wo wie viel kostet und was wo wie viel wert ist, und der immer genau weiß, wo drinnen und draußen ist, Matthäus steht auf.
Und das Faszinierende ist, dass mit diesem einen Aufstehen vieles, fast alles und alle, in Bewegung kommen. Die Zuordnung von drinnen und draußen kommt in Bewegung. Viele Kollegen des Matthäus kommen in Bewegung. Die Zuordnungen von gesund und krank kommen in Bewegung. Es ist ja längst nicht immer ausgemacht, dass die Kranken nur krank und die Gesunden nur gesund wären – zu schweigen von den Sündern und Gerechten. Die Zuordnung von Pflicht und Barmherzigkeit und Gerechtigkeit kommt in Bewegung. Und sogar die Jünger Jesu, die ja in den Evangelien immer so gut wie gar nichts kapieren, kommen in Bewegung. Sie erhalten eine Frage, auf die sie erstmal keine Antwort haben: Warum isst euer Meister mit Sündern und Zöllnern? Sie haben keine Antwort. Und was eigentlich kann einem Jünger, einer Jüngerin Jesu Besseres passieren, als eine Frage zu bekommen, auf die man keine vorgestanzte Antwort hat?
Nicht zuletzt aber kommen auch die Skeptiker:innen und Kritiker:innen Jesu in Bewegung. Denn irgendwie müssen sie ja wohl doch auch mitgekommen sein, wenn sie mitbekommen, was Jesus tut und mit wem Jesus isst. Und so viel Abstand können sie auch nicht gehalten haben, wenn Jesus sie vom Tisch weg ansprechen kann.
Und ich stelle mir vor, dass er auch sie einlädt. Belonging before believing. Mund und Kehle sind ja nicht nur zur Einstimmigkeit gemacht, sondern auch zum Dialog, zum Singen im Kanon, zum Essen und Trinken und Lachen.
„Also jetzt, wo ihr schon mal da seid, könnt ihr euch auch für ein Momentchen dazusetzen. So was bespricht sich doch besser bei einem Stück Brot und einem Schluck Wein.“ „Und nun kommt, es ist alles bereit. Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.“
V.
Die Grenzveränderung, wegen der wir heute hier zusammen sind, ist ein "weltlich Ding". Zwei Kirchenkreise legen ihre Kräfte, ihre Gaben – und das sind viele – und ja, auch ihre Eigenheiten zusammen. Sie tun dies, um so besser zurechtkommen mit weniger Geld, weniger Personal und weniger Mitgliedern. Leicht ist das nicht; denn immer geht es dabei auch um Gewohntes und Liebgewonnenes, das sich ändert oder auch schwindet. Es geht ums Einüben von Neuem, für das man (noch) kein Gefühl hat. Das kostet Kraft, es kostet Zeit und, ja, es kostet auch Nerven. Und ich danke allen, die bisher und künftig diese Kraft, diese Zeit aufbrachten und -bringen. Und nun könnte es ja sein, dass nicht nur ich manchmal regelrecht gebannt und erstarrt bin von diesem Weniger. Problemtrance, nennen das Psycholog:innen. Mangelobsession der Theologie Ralf Miggelbrink. Man sieht nur noch das, was nicht da ist. Dann brauche ich einen, der mich herausruft aus dem Bann des Weniger.
Ich glaube, Christ:innen sind berufen, einander in all den oft gar nicht so leichten Veränderungen zu solchen Herausrufern und -ruferinnen aus dem Bann des Weniger zu werden. Und sie sind berufen, in all dem, was gar nicht so leicht ist, auch den Ruf und Fingerzeig Jesu zu erkennen, zu erlauschen und zu erbitten, der mit sich und mit uns, und mit aller Welt noch nicht am Ziel ist.
Der mit seinem Heil, seiner Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, weiter will und deshalb nicht Halt macht an den Grenzen unserer Erfahrungen, unseres Hoffens und Glaubens – unseres Geldes, Personals und unserer Statistiken übrigens auch nicht. Gott sei Dank nicht! Der uns aber mitnehmen will in seine Zukunft. Das ist das Mehr in allem Weniger. Ein Mehr, das wir nicht machen müssen, an dem wir – und eben nicht nur wir – aber teilhaben dürfen und sollen. Gott sei Dank dafür auch!
Jesus – so erzählt es Matthäus – verlässt seine Lieblingsstadt, will weitergehen, weiterkommen. Und will dabei nicht allein bleiben; mindestens einen nimmt er mit. Den Grenzwächter ausgerechnet.
Im Jahr 2013, vor dem Konklave, der Papstwahl, zu der sich die Kardinäle ja einschließen lassen, hielt der spätere Papst Franziskus eine Andacht zu dem Jesuswort aus der Offenbarung: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“ (Offb 3,20). Und dann sagte er sinngemäß: „Heute steht Jesus wieder vor der Tür der Kirche und klopft. Aber diesmal steht er innen und will herausgelassen werden.“
VI.
Der italienische Maler Caravaggio hat die Berufung des Matthäus in einem Bild festgehalten.
Er verlegt die Szene ins Halbdunkel eines Amtszimmers, vielleicht auch in einen Schankraum. Links sitzen fünf Leute um einen Tisch. Noch ist hier also keiner aufgestanden. Aber was genau bringt denn eigentlich einen oder alle von ihnen zuletzt doch auf die Beine?
Auf der rechten Bildseite stehen zwei Männer. Der eine ist Jesus, der andere Petrus, der Jesus fast ganz verdeckt … und weh’ uns Amtsträgern und -trägerinnen, denen es so ginge, dass sie mit ihren breiten Schultern den Blick auf und den Weg zu Jesus versperren. Und Gott sei Dank, dass von ihm und seinem Gesicht trotzdem noch immer genug Licht herüberscheint.
Jesus und Petrus schauen und zeigen zu den Sitzenden herüber und die gucken zurück und zeigen zurück. Interessiert, fragend, neugierig oder überrascht? Am eindrücklichsten aber sind nicht die Gesichter, am eindrücklichsten ist nicht einmal das Licht, am eindrücklichsten sind die Hände. Jesus und Petrus zeigen herüber zu denen am Tisch, und dort nehmen zwei die Bewegung auf, zeigen auf sich oder aufeinander. „Wen meinst du denn, Jesus, mich? Oder vielleicht eher ihn?“, scheinen die Gesichter zu fragen. In der Tat ist es gar nicht so leicht festzustellen, wer gemeint ist. Der Rothaarige mit den hochgezogenen Augenbrauen, der Junge neben ihm oder vielleicht doch der andere, der den Kopf hängen lässt, über den paar ärmlichen Münzen am Tisch. Und je länger du hinschaust, desto klarer wird: Es könnte, es sollte jeder und jede sein. Und genauso gut ich.
VII.
Übrigens hat Caravaggio die Hand Jesu, die zu den Matthäussen am Tisch herüberzeigt, genauso gemalt, wie Michelangelo ein paar Jahre zuvor die Hände bei der Berührung von Gott und Mensch in der Sixtinischen Kapelle gemalt hatte.
Sie erinnern sich, da ist die kräftige energiegeladene Hand des Schöpfers, mit dem ausgestreckten Finger, und da ist die empfangende, fast schläfrige und tief bedürftige Hand Adams. Man kannte und zitierte sich eben unter Künstlerkollegen. Man nahm wahr, was der andere tat, man lernte voneinander, man übernahm und veränderte, was die anderen machten. Und so arbeitete man zusammen – am je eigenen Bild. Wie schön!
Wie Schöpfer und Geschöpf – so eng, so neu und so lebensstiftend ist das, was sich hier abspielt zwischen Jesus und Matthäus. So könnten wir diese Übernahme Caravaggios aus Michelangelos Schöpfungsbild übersetzen.
Bloß – welch fröhlicher Wechsel und Tausch – bloß hat Jesus auf Caravaggios Bild gar nicht die energische Hand Gottes, er hat die empfangende und bedürftige Hand Adams.
„Daß Du Gott brauchst, weißt du allezeit in deinem Herzen“ – so hat es Martin Buber, der jüdische Philosoph und Lehrer des Dialogs vor genau hundert Jahren in seinem Buch Ich und Du formuliert – „aber [weißt du] nicht auch, daß dich Gott braucht – in der Fülle seiner Ewigkeit, dich? Wie gäbe es den Menschen, wenn Gott ihn nicht bräuchte, und wie gäbe es dich?“ (Martin Buber, Ich und Du (1923), Stuttgart 2008, 88)
Na klar, Matthäus, „gerade du brauchst Jesus“. Aber wisse und glaube doch auch das Umgekehrte, dass er dich braucht! Und dass du, wirklich du ihm auf seinem Weg gerade noch gefehlt hast!
VIII.
Matthäus, der aufstand und hinter der Schranke hervorkam, taucht in Kapitel 10 des Evangeliums in der Liste der Apostel auf (Mt 10,3). Da schickt Jesus je zwei und zwei aus, die Nähe des Himmelreichs zu verkündigen, Kranke zu gesund zu machen, Geister auszutreiben, sogar Tote aufzuwecken und Menschen und Häuser Frieden zuzusagen (Mt 10,7–15). Gold, Silber und Kupfer sollen sie nicht dabeihaben (V. 9). Nichts zu verzollen eben.
Und wer weiß, vielleicht ist es ja so gesehen doch kein Zufall, dass gerade dieser Matthäus, der die Kraft und den Mut fand, aufzustehen, nach der Tradition zum Autor des ersten Evangeliums geworden ist. Das Evangelium, das seinen Namen trägt, beginnt in Kapitel 1 mit dem Immanuel-Namen, dem ‚Gott mit uns-Namen‘. Und in Matthäi am Letzten, da wo Lukas und Markus von Jesu Himmelfahrt erzählen – da ist Matthäus mit dem Da-Sein- und Dabei-Sein-Jesu noch längst nicht ans Ende gekommen; im Gegenteil: „Denn siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“
Amen.