News-Archiv

Wachsen, dienen, geben
Anregungen für Gemeindearbeit aus London

21.10.2014

Wie leben Kirchengemeinden unter den Bedingungen einer multikulturellen und entkirchlichten Gesellschaft? Dieser Frage gingen Ende September einige Mitarbeitende aus dem Evangelischen Kirchenkreis Siegen nach und besuchten eine Woche lang Kirchengemeinden in London, einer der pulsierendsten Metropolen Europas. Begleitet wurden sie von Pfarrer Andreas Isenburg vom Amt für Missionarische Dienste, Dortmund.

London wurde ausgesucht, weil hier eine neue Entwicklung der Anglikanischen Kirche vielfältig sichtbar wird: „Fresh-Expressions“. Unter dem Begriff „Fresh-Expressions“ (Frische Ausdrucksformen) oder in Kurzform „Fresh X“ organisieren sich viele kirchliche Gruppen, die innerhalb der Church of England neue Formen der Gemeindearbeit ausprobieren und sich dabei auf die gesellschaftliche Umgebung einstellen. 

Superintendent Peter-Thomas Stuberg war von den Erlebnissen in den Londoner Gemeinden sehr beeindruckt. Zeigen sie doch, wie Kirche unter den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts lebendig bleiben kann und welche Faktoren zu ihrer Zukunftsfähigkeit und Weiterentwicklung beitragen können. Stuberg: „Die Gemeinden waren an einem Nullpunkt angelangt. Niemand nahm mehr die normalen Gemeindeangebote an. In dieser Situation erfolgte zunächst eine Umfeldanalyse. Wer wohnt im Einzugsbereich der Kirchengemeinde? Wie denken diese Menschen und in welchen Zusammenhängen leben sie? Was sind ihre Nöte und was kann unser Kirchengebäude leisten. Es wird die Frage nach Arm und Reich ebenso gestellt wie nach der Bildung. Die Gemeinden reagieren flexibel und passen ihre Arbeit und Strukturen an.“

Besucht wurde beispielsweise eine Gemeinde in Richmond im Südwesten Londons. Hier leben viele Familien mit Kindern. Das Gemeindeleben wird von Ehrenamtlichen gestaltet, der Kindergottesdienst hat einen hohen Stellenwert. Pastor Richard Frank kümmert sich um die Ehrenamtlichen und deren theologische Anleitung. Mit wöchentlichen Kurz-Videos wendet er sich über das gemeindeeigene Intranet an die Mitarbeitenden.

Am Rande des Bankenviertels organisiert sich „Moot“ als eine Art neuer Klostergemeinschaft in der Kirche St. Mary Aldermary in der Londoner Innenstadt. Die Mitglieder leben nicht zusammen, sondern über die Stadt verstreut und nehmen gegebenenfalls über das Internet am Stundengebet teil. Der Kirchenraum ist aufgeteilt in einen Bereich für Stille und Gebet und in ein Café, das die Gemeindeglieder betreiben. Ein Kontrastprogramm zur lauten und hektischen Innenstadt.

Inmitten von gigantischen futuristischen Bürotürmen befindet sich die alte Gemeindekirche St. Helen's Bishopsgate. Hier wohnt fast niemand mehr und dennoch gibt es Kirche. Ein Banker-Lunch wurde ins Leben gerufen. Rund 200 Menschen, zumeist Banker, besuchen mittwochs während der in Großbritannien üblichen 1 ½ stündigen Mittagspause eine konservative Bibelbetrachtung in Kombination mit einem kleinen Mittagessen. Inzwischen gibt es auch einen Gottesdienst am Sonntagmorgen, wo sich Teilnehmende der Mittwochsveranstaltung mit ihren Familien einfinden. Mittlerweile ist das Angebot um Kleingruppenarbeit ebenfalls im Kirchengebäude erweitert worden.

In St. Marks Battersea rieben sich die Siegerländer verwundert die Augen. Der alte ehrwürdige Kirchraum war mit hohen Blechregalen vollgestellt, in denen Lebensmittel für Bedürftige lagerten. Der Chorraum war gefüllt mit Veranstaltungstechnik. Der Gemeindepastor Paul Perkins erzählte, dass nur noch acht hochbetagte Menschen zum Gottesdienst gekommen seien, den ein Pastor im Ruhestand gehalten habe. Als keiner mehr kräftemäßig in der Lage gewesen wäre, das schwere Eingangsportal zu öffnen, habe diese kleine Gruppe aufgeben müssen. Die Kirche ist im Rahmen eines Fresh-Expression-Projektes übernommen worden. Heute gibt es ein beeindruckendes sozial-diakonisches Engagement und eine ausgeprägte Kleingruppenstruktur.

Besucht wurde auch eine Gemeinde, die die Fresh X-Bewegung kritisch sieht. Pfarrer Joshua Rey von St. Leonhard's Steatham zeigte auf, dass sich in seiner Kirche schon seit 1000 Jahren Menschen träfen, um zu beten. Es sei nicht viel verändert worden. Daher gehe er davon aus, dass diese Kirche vielleicht auch noch in weiteren 1000 Jahren an diesem Ort stehen werde. Rey sieht die „normale Ortsgemeinde“ als einen verheißungsvollen Ort an, „weil sich hier Menschen miteinander verbinden, die ansonsten nichts miteinander verbindet“.

Die Siegerländer Besucher waren überrascht von den vielfältigen Ausdrucksformen kirchlichen Lebens und dem Mut, Neues zu wagen. Bemerkenswert wurde die Unterstützung durch die Kirchenleitung empfunden, neue Projekte für drei Jahre finanziell zu unterstützen, auch wenn nicht klar ist, ob sie erfolgreich sein werden. Die anglikanische Kirche sieht sich für alle Menschen zuständig, die in einem Gemeindegebiet leben, losgelöst von ihrem Glauben oder der persönlichen Religionszugehörigkeit. Fragen der Finanzierung erschienen eher sekundär. Ein oder zwei Pfarrer pro Gemeinde werden von der Anglikanischen Kirche bezahlt. Alles weitere bringen die Gemeinden über freiwillige Spenden auf. Die Arbeit vor Ort geschieht nach drei Prinzipien: Wachsen, dienen und geben.

Superintendent Peter-Thomas Stuberg: „Die Entkirchlichung der Gesellschaft wurde in den Gemeinden, die wir besuchten, nicht bejammert, sondern sie setzen zielgerichtete Angebote dagegen. Die Krise wird als Chance gesehen, für das eigentlich Kirchliche neue passendere Ausdrucksformen zu finden.“ Daraus sei eine hohe Experimentierfreude entstanden. Manches gelinge, manches aber auch nicht. Es werde ausprobiert. Stuberg: „Dadurch ist in London ein verändertes Gemeindebild entstanden. Es ist nunmehr „marktorientiert“. In diesem System habe ich begeisterte Pfarrer kennen gelernt, die kraftvoll und motiviert ihre Arbeit tun. Sie haben eine Vision, sie haben ein Ziel und die Erfolge werden gemessen.“

kp

 

Text zum Bild: (Fotos Peter-Thomas Stuberg)

 

Viele Kirchenbesuche und vor allem Gespräche standen auf dem Programm der 19 Siegerländer und einem Dortmunder in London.

Hier: Gruppenbild in St. James Piccadilly, London

 

Pastorin Lindsay Meader schildert den Siegerländern in St. James Piccadilly, wie sich ihre Gemeinde St. James Piccadilly um die Obdachlosen kümmert.

 

Banker in der Kirche St. Helen’s Bishopsgate während der Mittagspause.

 

Bild oben:

Elizabeth Tower am Palace of Westminster mit der bekannten Glocke Big Ben in der untergehenden Sonne.

zurück zur Übersicht

get connected