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Frische Gedanken zu einem alten Text
12.2.2023
„Ich konnte noch nie gut vor mehreren Menschen stehen und reden. Jedes Mal wurde ich extrem nervös. Meine Gedanken platzten aus allen Nähten vor Aufregung und Zweifeln.“ So erinnerte sich Jonathan Kuhli jetzt an sein Unbehagen, bevor er sich beim Abendgottesdienst in der evangelischen Erndtebrücker Kirche als Praktikant von Pfarrerin Kerstin Grünert vorgestellt hatte. Dieser Erinnerung formulierte er auf den Tag genau fünf Wochen nach seiner Vorstellung, als er nun zum Ende seines Praktikums allein vor 60 Zuhörenden im Gottesdienst eine Predigt halten musste.
Der 22-jährige Erndtebrücker absolviert eine integrierte sozial- und gemeindepädagogische Ausbildung am MBS. Bei der Gründung vor über 50 Jahren stand MBS für Marburger Bibel-Seminar, heute ist es eine private Fachschule für Sozialwesen in der Stadt an der Lahn. Nach der dreijährigen Ausbildung dort und einem anschließenden Anerkennungs-Jahr ist Jonathan Kuhli sowohl Erzieher als auch Gemeindepädagoge. Und wegen des akuten Mangels an Pfarrerinnen und Pfarrern werden Gemeindepädagogen und Gemeindepädagoginnen wichtiger für heimische Kirchengemeinden.
Während seines Praktikums begleitete er Kerstin Grünert in ihrem Arbeits-Alltag: Er war in der Frauenhilfe genau wie bei ganz unterschiedlichen Sitzungen, die zum Pfarralltag gehören, er erlebte eine Beerdigung mit, motivierte die Katechumeninnen und Katechumenen beim Kirchenkreis-Konfi-Cup und gab ihnen Trainer-Tipps. Jonathan Kuhli selbst hatte 2015 für den Kirchenkreis auf der Westfalen-Ebene des Fußball-Wettbewerbs gekickt, nachdem die Erndtebrücker damals den Wittgensteiner Konfi-Cup gewonnen hatten. Für den Kirchenkreis-Sieg reichte es diesmal zwar nicht, aber die beiden Erndtebrücker Teams nahmen aus Bad Laasphe die Pokale für den zweiten und dritten Platz im Fußball mit nach Hause - so erfolgreich waren sie schon lange nicht mehr gewesen.
Auch wenn der Praktikant an all diesen sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Erlebnissen in den vergangenen Wochen zweifellos gewachsen ist, lag es vielleicht gar nicht daran, dass er seine Predigt jetzt so unbefangen halten konnte. Er ging nochmal auf seine Vorstellung beim Abendgottesdienst ein: „Als ich aus der zweiten Reihe aufstand und kurz vor Ende des Gottesdienstes nach vorne ging, war die Aufregung wie verflogen. Alle Gedanken und Sorgen, die ich mir im Vorhinein gemacht hatte, waren wie ausgelöscht. Ich wusste in diesem Moment, dass ich mir keine Sorgen machen musste und dass Gott seine Hand über mir hielt.“ Genau das sicherte ihm ja die Matthäus-Evangeliums-Bibelstelle übers Sorgen-Machen zu, zu der Jonathan Kuhli in Erndtebrück selbst predigte.
Deshalb sprach der Erndtebrücker vom Sorgen-Machen, ordnete es zunächst ein: „Es gibt Studien, die sagen, 90 Prozent aller unserer Sorgen treten niemals ein. Das sind so viele Gedanken, die uns das Leben schwer machen, obwohl das völlig unnötig ist und wir die Zeit mit anderen Dingen füllen könnten.“ Zudem hätten Sorgen eine ganz eigene Dynamik: „Womit wir unser Gehirn füttern, das wird auf Dauer verstärkt. Je mehr Sorgen ich mir heute mache, desto mehr Sorgen werde ich mir morgen machen.“ Andererseits ermutigte er zum genauen Hinschauen: „Mach‘ dir klar, worüber du dir Sorgen machst, denn unsere Sorgen sind ein guter Hinweis dafür, was uns wichtig ist, was uns am Herzen liegt.“ So hatten die Gottesdienst-Besucherinnen und -Besucher in Erndtebrück zur bekannten Bibelstelle mit den Vögeln, die nicht säen und trotzdem satt werden, mit den Lilien, die besser gekleidet sind als Salomo, mal ganz andere Gedanken gehört - vom 22-jährigen Praktikanten.